Professor Dr. med. habil. Gerhard Volkheimer

Nachruf
Prof. Dr. med. habil. Gerhard Volkheimer
11.7.1921 –  6.1.2021

Ein Zeitzeuge für die Entwicklung der Gastroenterologie im Nachkriegsdeutschland, in der geteilten und wieder vereinten Stadt Berlin und an der Charité ist (am 6. Januar 2021) verstummt, wenige Monate vor seinem 100. Geburtstag und kurz nach dem Tod seiner sehr geliebten Frau Ruth, mit der er 64 Jahre verheiratet war. Wir haben einen herausragenden Arzt und Wissenschaftler, begeisternden Hochschullehrer, einen in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Menschen verloren. Sein wissenschaftliches Lebenswerk zur enteralen Aufnahme von Mikropartikeln („Hirsch-Effekt“) sowie deren Verteilungs- und Clearance-Mechanismen im Menschen, zusammenfassend publiziert in der Monographie „Persorption“ und zwischen 1961 und 1967 weltweit auf Kongressen vorgetragen, könnte durch neue Untersuchungen zur Ingestion von Mikro-Plastik-Teilchen wieder aktuell werden.

Bis ins hohe Alter waren im Gespräch (mit Prof. Volkheimer) Lebensdaten, gesellschaftliche Ereignisse und medizinisch-wissenschaftliche Fakten minutiös präsent. Das Abitur hat er in seiner Heimatstadt Kempten im Allgäu abgelegt. Sein Medizinstudium absolvierte er bis zum Physikum in Erlangen. Dann studierte er weiter als Wehrmachtsangehöriger im Sanitätsdienst in Graz, Kiel, Würzburg und Marburg mit zwischenzeitlichen Fronteinsätzen. Nur ein glücklicher Zufall bewahrte ihn vor dem Untergang mit seinem torpedierten Kriegsschiff. Examen und Promotion erfolgten in 1946 Marburg. 1946 bis 1948 war er wissenschaftlicher Assistent an der Medizinischen Universitätsklinik Marburg („der alte Schölmerich war mein Stationsarzt“) und an den Pathologischen Instituten in Marburg und Bochum (Prof. di Biasi). Von 1948 bis 1951 war er an den chirurgischen Universitätskliniken der Charité tätig (III. Chirurgische Klinik in der Turmstraße, I. Chirurgische Klinik in der Ziegelstraße.).

1951 wechselte Dr. Volkheimer an die I. Medizinische Klinik der Charité. Unter den Professoren Th. Brugsch und später F. H. Schulz, die die Traditionen der deutschen universitären Inneren Medizin pflegten, erhielt er eine exzellente internistische Ausbildung und baute erfolgreich eine klinische und experimentelle Gastroenterologie auf. In das große „Laboratorium für experimentelle Gastroenterologie“, stecke er das an der Charité verdiente Geld.

Im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit stand der Dünndarm. Der von Gustav Herbst 1844 entdeckte und von Rahel Hirsch 1906 erstmals am Menschen beobachtete und in Vergessenheit geratene Übertritt fester Partikel aus dem Digestionstrakt in die Blutbahn und deren Elimination in den Urin faszinierte ihn. Auf das Thema „Persorption“ konzentrierte er viele experimentelle Arbeiten, an denen, perfekt organisiert, viele Doktoranden beteiligt waren. 1962 habilitierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bis 1967 war Prof. Volkheimer Leiter der Abteilung für Gastroenterologie an der I. Medizinischen Klinik der Charité. Von seinen Mitarbeitern verehrt, wurde er liebevoll „der Boss“ genannt. Aus politischen Gründen konnte er trotz Unterstützung der Medizinischen Fakultät (Dekan: Prof. Dr. Dr. Waldeyer) keine ordentliche Dozentur oder Professur bekommen.

Schwerpunkte in der Entwicklung der gastroenterologischen Abteilung waren die gastroenterologische Funktionsdiagnostik, die starre und flexible Endoskopie und die Röntgendiagnostik des Verdauungskanals. Das seinerzeit modernste Röntgengerät (Orbiskop) konnte er nur für die eigene Praxis anschaffen. 1969 erfolgte dann die Um-Habilitation an die Freie Universität, 1972 die Ernennung zum apl. Professor. An der FU hielt er weiterhin Vorlesungen über Dünndarmerkrankungen und Parasitosen.

Prof. Volkheimer verfügte über eine immense ärztliche Erfahrung, die er im großen Krankengut der Charité und in der gemeinsam mit seiner Ehefrau perfekt organisierten gastroenterologischen Praxis am Bayerischen Platz sammeln konnte. Dort arbeitete er von 1948 bis 1993 (während seiner Tätigkeit in der Charité am frühen Morgen und am späten Nachmittag / Abend). Diese wohl erste gastroenterologische Praxis im Nachkriegsberlin war in ihrer Struktur und Arbeitsorganisation ein Vorbild für Fachpraxen in anderen deutschen Städten, wie z.B. München.

Besonders bemerkenswert und Ausdruck seiner großen Vitalität und beispielhaften Selbstdisziplin, ist deshalb auch die wissenschaftliche Leistung von Prof. Volkheimer, der neben seinen Monografien „Persorption“ (Georg-Thieme-Verlag Stuttgart, 1971) und „Gastroenterologie für die Praxis“ (J. F. Lehmanns Verlag München, 1975) über 300 Einzelarbeiten veröffentlichte. Sehr erfolgreich und didaktisch brilliant referierte Prof. Volkheimer auf Fortbildungsveranstaltungen über „Rationelle Praxis ….“, „Rationelle Diagnostik …..“, „Rationelle Therapie …..“ oder „Parasitosen“. Für seine Verdienste um die ärztliche Fortbildung erhielt er 1971 die „Ernst von Bergmann-Medaille“.

Mit Talent und Erfolg organisierte Prof. Volkheimer wissenschaftliche Veranstaltungen. Er war 1984 Präsident der Deutschen Gesellschaft für gastroenterologische Endoskopie und der 16. Tagung in Berlin, die gemeinsam mit / parallel zum 39. Jahreskongress der DGVS (Präsident: Prof. Riecken) stattfand.

Prof. Volkheimer reklamierte seine wissenschaftlichen Leistungen nicht allein für sich. In kollegialem Respekt vor Rahel Hirsch (1870-1953), der ersten Professorin der Medizin in Preußen, trug er wesentlich zu ihrer späten Anerkennung bei (Aufnahme in die „Galerie berühmter jüdischer Wissenschaftler“ in Jerusalem, Rahel Hirsch-Denkmal in der Charité, Rahel  Hirsch-Straße in Berlin). Die ehrenvolle Einladung zur Fest- und Gedenkveranstaltung zum 150. Geburtstag von Rahel Hirsch am 15.9.2020 in der Charité hat ihn mit großer Freude und Dankbarkeit erfüllt, die ihn bis zuletzt getragen hat.

Wir bewundern seine großartige Lebensleistung. Wir werden Prof. Volkheimer ein ehrendes Gedenken bewahren.

Persönlich habe ich Prof. Volkheimer als Student und junger Arzt und Wissenschaftlicher an der Charité zunächst nur aus der Ferne, aus Erzählungen seiner ehemaligen Kollegen und aus der Literatur kennen und schätzen lernen können. Nach der Wende sind wir uns an der Charité, der er sich immer verbunden fühlte, in den gastroenterologischen Gesellschaften und zu seinen Geburtstagen begegnet.

H. J. Schulz
Berlin